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Ludwig Tieck ist der wichtigste Vertreter und Bezugspunkt der literarischen Linie im 'doppelten Ursprung' der deutschsprachigen Romantik. Mit dieser Formel akzentuiert Rudolf Haym die Verbindung von programmatisch-theoretischer Grundlegung durch Friedrich Schlegel und Novalis auf der einen und einer literarischen Praxis auf der anderen Seite, die auf Ludwig Tieck zurückgeht1. Tiecks Frühwerk seit Mitte der 1790er Jahre, das alle Spielarten dieser neuartigen Poesie umfaßt, wird zum wichtigsten Vorbild für die nachfolgenden Autoren der literarischen Romantik.
Der Einsatz der neuen Epoche geht nun vor allem auf Tiecks Bearbeitungen des Blaubart-Stoffs um 1796 zurück. Bemerkenswerterweise greiftTieck ihn fast gleichzeitig sowohl in einer Prosa- als auch in einer Dramenfassung auf. Im folgenden geht es um Beobachtungen zu dieser generischen Konstellation, für die sich die Forschung bislang auffallend wenig interessiert hat2. Ist die zunächst entstandene Dramenfassung Ritter Blaubart als erstes, genuin frühromantisches Werk überhaupt anzusehen, bleibt die kurz darauf publizierte Prosavariante Die sieben Weiber des Blaubart stärker bezogen auf zeitgenössische Erwartungen an die Prosa der Spätaufklärung. In beiden Fällen aber - in einer launigen Verulkung der modischen Ritterdramatik der Zeit auf der einen, einem selbstbezüglich poetisierenden Spiel mit Mustern der zeitgenössischen Literatur und Erwartungen des Literaturbetriebs der Spätaufklärung auf der anderen Seite - kommt der romantischen Anverwandlung des Blaubart-Stoffs eine herausragende Bedeutung für die Entstehung einer neuen Epoche in der deutschen Literaturgeschichte zu. Tieck bezieht sich dabei in erster Linie auf Perraults Märchengestaltung, um an der gattungsspezifisch differenzierten Adaption die neuen Möglichkeiten einer romantischen Umschriftdes Märchenstoffs zu demonstrieren.
Warum ist Perraults Blaubart für Tiecks Interessen so geeignet gewesen? Winfried Menninghaus hat in seinem Buch Lob des Unsinns (1995) die Prosavariante mit grundsätzlichen Überlegungen zur Märchenlogik bei Perrault in das Zentrum seiner Thesen zu einem literarischen Unsinn gestellt, den Tieck mit dem 'Blaubart-Komplex' (Ribbat) in die deutsche Literatur eingeführt hat. Bereits Perrault habe seine Märchen, erstmals als genuine Literatur ausgewiesen, mit dem Zusatz Avec des Moralités reflexiv gebrochen3. Das ungeklärte Geheimnis des blauen Barts werde als 'Unglück' ("mais par malheur") charakterisiert, ohne daß Perrault weitere symbolische Ausdeutungen ins Spiel bringe. Und schon bei Perrault erscheine Blaubart neben seiner Grausamkeit als ein kultivierter und großzügiger 'honnête homme', der eine aristokratisch-großbürgerliche Kultur der Geselligkeit pflegt, so daß bereits hier höchst widersprüchliche Qualitäten zusammenkommen.
Für den frühen Tieck wird Blaubart zum attraktiven Modell einer...