Content area
Full Text
Superstition is nonsense, but the study of superstition is scholarship
(dem Talmudisten Saul liebermann zugeschrieben)
Ende August 2003 stellte der Warschauer Publizist Stefan Bratkowski, Jahrgang 1933, im Zusammenhang mit der in Polen emotional hochaufgeladenen Debatte um ein ,Zentrum für Vertreibungen' in Rzeczpospolita, einer der führenden polnischen Tageszeitungen, rhetorisch die Frage, ob vielleicht der Vater der 1943 in Westpreußen geborenen Vertriebenenfunktionarin Erika Steinbach als Besatzungssoldat Transporte aus dem KZ Stutthof beaufsichtigt habe mit Leichen, aus deren Fett die Deutschen in Danzig Seife gemacht batten? Und wer könne garantieren, fährt er fort, daB die kleine Erika nicht mit dieser Seife gewaschen worden sei?1 Ein Einzelfall, über den man zur Tagesordnung übergehen kann? 1st sich derm die Fachwelt nicht längst darin einig, daß es sich bei den Erzählungen uber Seife, die die Deutschen/die Nazis aus Juden und anderen KZ-Opfern hergestellt haben sollen, um typische zeitgenässische Sagen handelt?
Ein Positionspapier des United States Holocaust Memorial Museum (USHMM) sagt hierzu unmißverständlich: "Reports that the National Socialists and their collaborators used human fat from their victims in the manufacture of soap are not corroborated in a conclusive manner in available documentary evidence and eyewitness accounts." Auch wenn - was das USHMM nicht völlig ausschließen will - Versuche hierzu gemacht worden sein sollten, erlaube die Quellenlage nicht den Schluß, daß die Nazis tatsächlich Seife aus Menschenfett hergestellt hätten2.
Ein Blick ins Internet zeigt jedoch, daß das Thema keineswegs vom Tisch ist. Eine Recherche Ende 2003, zum Teil wiederholt im Oktober 2004, in 12 Sprachen3 zu den Stichworten {Juden AND Seife AND {Deutsche OR Nazis OR Holocaust}} lieferte über sechshundert Websites aus ganz Europa, Australien und beiden Amerikas, auf denen erwähnt wird, die Deutschen/die Nazis hätten die Leichen der in den KZs und Vernichtungslagern Ermordeten zu Seife verarbeitet (im folgenden summarisch als 'die Seifenlegende' bezeichnet). Auf etwa sechzig Prozent4 der untersuchten Websites wird dies unhinterfragt als wahr unterstellt. Es sind dies vorwiegend Diskussionsforen, Seiten von Bildungseinrichtungen (Schulen, Hochschulen, Institutionen der Erwachsenenbildung sowie Anbieter von Lehrmitteln), Memoiren von und Interviews mit Überlebenden der Lager, Festreden zu Gedenktagen5 sowie Seiten von jüdischen Organisationen. Deutlich aus dem Sample heraus fallen nach unten bin dänische, russische und brasilianische Websites mit je nur ca. zehn, zwanzig beziehungsweise dreißig Prozent 'Überzeugten' sowie nach obenhin polnische Websites mit über neunzig...