1. Performative turn
Eine Vielzahl von Arbeiten in allen Disziplinen der Sozial- und Geistes-/Kulturwissenschaften im vergangenen Dezennium hat sich dem Korper zugewandt, immer mehr der corpo-reality, dem Feld der Korpertechniken und -praxen. Gegen den linguistic turn des 20. Jahrhunderts, die Pragung des Gegenstandsfeldes durch Beobachtung sprachahnlicher und zeichenhafter Prozesse, scheint sich das genannte Wissenschaftenbundel mit erklart nicht- oder antisemiotischen Modellen ins 21. Jahrhundert auf den Weg machen zu wollen. Der performative turn, den die Herausgeber des vorliegenden Sammelbandes reklamieren, steht dabei neben, nicht selten auch in Verbindung zum visual turn, der Hinwendung zu einer Bildwissenschaft angesichts einer angenommenen Dominanz des Visuellen in der Kultur. Fur alle diese Wendungen scheint zu gelten, dass sie in den etablierten Grenzen akademischer Disziplinen den Grund fur Beschranktheit und Ruckstandigkeit des Wissens sehen. Eine neue, nicht-additive Kooperation uber Disziplingrenzen soll Gegenstanden wie dem Korper und dem Visuellen angemessen sein, die alle kulturellen Grenzziehungen und Felder queren. [1]
Um den aus der Verstarkung der Interdisziplinaritat bzw. der Kreation "undisziplinierter" Forschung folgenden Problemen der Verstandigung und Verstandlichkeit abzuhelfen, unternehmen es die Herausgeber der Reihe Performanzen/Performances, die der vorliegende Sammelband eroffnet, an der "Auswahl und Etablierung geeigneter interdisziplinarer Leitbegriffe" (S.v) zu arbeiten. Aus dem Trivium Ritual, Spiel und Theater geht es dem dominant ethnologische Studien versammelnden Band vor allem um das erste: Ritual. [2]
2. Ritualbegriff
Im engeren Rahmen der Diskussion um das Ritual dokumentiert der Band wiederum eine Wende in den Auffassungen. Entgegen der hergebrachten Annahme seiner Isolierbarkeit als eine fremdkulturelle, einheitliche Grose, erweist sich das rituelle Geschehen in den vorgelegten Studien als dynamische, ahnlich den Prozessen in den vermeintlich entwickelten Gesellschaften der Beobachter vieldeutige und ambivalente Grose. Neben der alten statischen Auffassung richten sich die Studien des Bandes aber auch gegen eine neuere Hypothese. Im Zentrum der Auseinandersetzung stehen die Thesen des Indologen STAAL (1979, 1989) der gegen eine lange Tradition der Interpretation von Ritualen als symbolische Verweisungssysteme ihre Bedeutungslosigkeit behauptet. In den Vordergrund ruckt damit die Regelhaftigkeit rituellen Handelns, die STAAL (1989, S.108) als Reproduktion einer Syntax ohne Semantik aufzufassen scheint. Daneben ist es vor allem die Arbeit zur Ritualtheorie von HUMPHREY und LAIDLAW (1994), die im Brennpunkt der Diskussion steht. Diese Autoren sehen ebenfalls nicht die Kommunikation von Bedeutungen als wesentliches Element im Ritual; vielmehr die (spirituelle?) Hingabe an das rituelle Geschehen. Dagegen erweisen die Beitrager des vorliegenden Bandes, dass diese Positionen genau die Aspekte methodisch ausblenden, die das Ritual ausmachen, aber eine Theoriebildung blockieren, die auf einer Architektur einfacher Disjunktionen beruht und damit notwendig unterkomplex bleiben muss. Dies zeigt sich darin, dass die These der Bedeutungslosigkeit auf der Beobachtung eines zu kleinen Ausschnitts des rituellen Geschehens beruht. Dagegen wird an die Indexikalitat, die Verweisungsstruktur und die Kontextsensitivitat im Gesamtzusammenhang der jeweiligen Aktualisierung des rituellen Repertoires erinnert. Diese Ruckbindung an den je aktuellen, spatio-temporalen Kontext ist es, die Rituale als sozial kontrollierte, nicht zuletzt auch ver- und ausgehandelte Performanzvarietaten erweist. Zudem erscheinen Perioden der Feste und Rituale als krisenhafte Zeit im Jahreszyklus bedeutungsvoll, die durch eine Infragestellung und Reorganisation der Ordnung der Gemeinschaft ausgezeichnet ist. So liese sich resumieren, dass Rituale auf drei Ebenen, der symbolischen, der sozialpragmatischen und der asthetisch-performativen, besonders effiziente Verdichtungen und Instrumentarien der Selbstverstandigung darstellen. Selbst wenn man die Bedeutungslosigkeit eines Rituals akzeptierte, ermoglicht die Re-Kontextualisierung dieser Partialbeschreibung Einblick in die Bedeutungen und damit sogar die Bedeutsamkeit der Bedeutungslosigkeit, wie der religionsvergleichende Aufsatz von A. MICHAELS herausstellt. [3]
Der Band profiliert damit einerseits Rituale als Gegenstand der "Wandelbarkeit wie Verhandelbarkeit" (S.3) von rituellen Formalisierungen, andererseits die Funktion von Ritualen als "transformative Performanzen" (S.7), etwa als geregelte Krisenszenarios der individuellen wie kollektiven Selbstverstandigung auf den unterschiedlichsten Ebenen. [4]
3. Ein kurzer Uberblick
Fur den nicht ausschlieslich an der ethnologischen Einzelforschung interessierten Leser verstarkt sich vor diesem Hintergrund die Bedeutung der Einleitung der beiden Herausgeber noch, die ihr ohnehin durch die Anlage des Bandes zugewiesen ist. Als Diskussion und Einfuhrung des Theorierahmens macht sie das Herzstuck aus, das in den Einzelstudien seine beispielhaften empirischen oder historischen Bestatigungen erfahrt: so in Teil 1 "Rituale zwischen performativer Intentionalitat und kosmischer Signifikanz", wo M. GAENNSZLE anhand des rituellen Sprechens in Ostnepal die Relevanz des performativen Kontexts verdeutlicht; U. RAO an indischen Tempelritualen eine Wechselbeziehung statt eines Gegensatzes von Offenheit und Formalitat deutlich machen kann; S. WOLF uber Liminalitat am Beispiel ihres nepalesischen Materials reflektiert; A. REIN an der tanzerischen Reprasentation der Reisgottin in Bali Mehrdeutigkeiten von Symbolen und Intentionen herausarbeitet; S. ZORIC die Verhaltnisse von Text und Performanz, zugleich das empirisch verfahrender Anthropologie und spekulativer Philosophie angeregt von ihrer Erforschung eines buddhistischen Rituals in Korea erortert; A. MICHAELS drei sudasiatische Religionen vergleicht und doch auf die Perspektive europaischer Tradition, ex opere operato, bezieht. [5]
Teil 2 "Der gottliche Korper" umfasst A. HENNs Ruckfuhrung der Debatte um Bedeutungslosigkeit mit indischem Material (Goa) auf ihre theologischen Wurzeln im Streit um die Abbildbarkeit und Zuganglichkeit der Gottheit; B. HAUSERs Uberlegungen fuhren mit Beispielen aus Burma zuruck zur Intentionalitat und Variabilitat in der Aktualisierung von Ritualen; B. SCHNEPELs Beobachtungen zum "Korper im Tanz der Strafe" in Orissa, ausgehend von der "orientalistischen" Rezeption der fruh-modernen Theateravantgarde des Okzidents, und des Herausgebers K.-P. KOPPINGs fur die Kernthesen des Bandes so zentralen Belege zur Transformation durch Performanz in japanischen Ritualen. [6]
Teil 3 "Performanzen und die Imagination der Welt" verlasst den engeren Rahmen ethnologischer und religionsvergleichender Studien. M. PRAGER wendet sich dem "Theater der Grausamkeit" zu und analysiert unter einer postkolonialen Perspektive die europaische Balirezeption; L. HAUSTEIN die "Performance-Kunst" und ihre primitivistischen Implikationen. Abgeschlossen wird der Band von V. CRAPANZANOs quasi-sokratischem Diskurs uber "Korper, Schmerz und Gedachtnis". [7]
4. Interdisziplinaritat und "Ubersetzbarkeit"
Im letzten, dritten Teil des Bandes werden die engeren Grenzen der ethnologischen Forschung hin zum Theater, zur Kunst und zu einem anthropologisch-philosophisch-psychoanalytischen Gesprach mit LACAN uberschritten. Dabei wird nochmals besonders deutlich, wie eng das Problem Ritual mit den Gesellschaften verbunden ist, die es beobachten wollen. Der Ritualbegriff inkorporiert noch immer den Gestus der Fruhen Moderne - Entstehungszusammenhang der Soziologie/Ethnologie -, die sich gegen die Erstarrungen einer konventionellen verbalen Sprache richtete und gegen diese "die stummen Kunste" (Hugo von HOFMANNSTHAL), die korperlichen Performanzen favorisierte. Im Zeichen der Lebensphilosophie waren "Erlebnis" und "Ereignis" per definitionem immer jenseits der Verbalisierbarkeit liegende Kontakte mit dem Lebensstrom. Der postmoderne und dekonstruktivistische Diskurs uberbieten mit ihrer Kritik am Logo- und Phonozentrismus diese Figuration noch. Der Einsatz des Bandes, Terminologie in je konkreten Beschreibungssituationen fur das interdisziplinare Gesprach zuruckzugewinnen, ist angesichts solcher blockierender selbstreferentieller Schleifen von Theorien besonders verdienstvoll. Dennoch bleiben angesichts dieser Einschreibungen in die Theoriebausteine Zweifel fur eine Anwendbarkeit gerade etwa auf europaische Kulturen der Moderne, denen die Bausteine einige ihrer Implikationen verdanken. [8]
Wie weit also die performative und transformative Dimensionierung des Ritualbegriffs uber die Stimulanz durch den entfalteten Aspektreichtum in Disziplinen tragt, die nicht am Band beteiligt waren, etwa die Philologien, die Geschichts- und Medienwissenschaften, bzw. inwieweit sie diese verlocken kann, sich zu entgrenzen und selbst mit dem vorgeschlagenen Ritualbegriff zu operieren, ist schwer abzuschatzen. Um die Vergleichbarkeit der unterschiedlichen Regionen, soziookonomischen, soziosemiotischen Kontexten und medialen Konfigurationen entstammenden Materialien, die der Band ausbreitet, herzustellen, waren umgekehrt auch zusatzliche Ringe von Kontexten um die Rituale hilfreich, die ein Dialog mit diesen Disziplinen bereitstellen konnte. Historikern, Literatur-, Film- und Kulturwissenschaftlern sei eine Konsultation dieses Bandes jedenfalls empfohlen. [9]
Zum Autor
Gustav FRANK
Bucher
* 1998: Krise und Experiment. Komplexe Erzahltexte im literarischen Umbruch des 19. Jahrhunderts. Wiesbaden, DUV
* mit Detlev KOPP (Hrsg.) (1999). Emancipation des Fleisches. Erotik und Sexualitat im Vormarz. Bielefeld: Aisthesis
* mit Detlev KOPP (Hrsg.) (2001). Gutzkow lesen! Bielefeld, Aisthesis
Projekte
* Frauen-Bilder - Medien-Korper
* "Modern times?"
Kontakt:
Dr. Gustav Frank
Department of German
University of Nottingham
University Park
Nottingham NG7 2RD, UK
E-Mail: [email protected]
Zitation
Frank, Gustav (2001). Rezension zu: Klaus-Peter Kopping & Ursula Rao (Hrsg.) (2000). Im Rausch des Rituals. Gestaltung und Transformation der Wirklichkeit in korperlicher Performanz [9 Absatze]. Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research, 2(2), Art. 33, http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0114-fqs0102334.
© 1999-2011 Forum Qualitative Sozialforschung / Forum: Qualitative Social Research (ISSN 1438-5627)
Supported by the Institute for Qualitative Research and the Center for Digital Systems, Freie Universitat Berlin
Humphrey, Caroline & Laidlaw, James (1994). The Archetypal Actions of Ritual. A Theory of Ritual Illustrated by the Jain Rite of Worship. Oxford: Clarendon Press.
Staal, Frits (1979). The Meaninglessness of Ritual. Numen 26, 2-22.
Staal, Frits (1989). Rituals Without Meaning. Ritual, Mantras and the Human Sciences. New York: Peter Lang.
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Copyright Freie Universität Berlin 2001
Abstract
URN: urn:nbn:de:0114-fqs0102334
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