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Für ihre Kollegen und alle anderen, die mit der Enzyklopädie des Märchens zu tun haben, ist es schwer vorstellbar, daß Inès Köhler-Zülch, die dem Unternehmen seit 1974 angehört, Ende Juni 2006 aus dem Dienst ausscheidet. In diesen 32 langen Jahren hat sie durch ihre Persönlichkeit, in der sich Schnelligkeit und Spontaneität mit wissenschaftlichem Engagement, philologischer Akribie und einem Gespür für Nuancen verbinden, die Enzyklopädie des Märchens entscheidend mitgeprägt; und obwohl sie uns auch in Zukunft mit Rat und Tat zur Seite stehen wird, nicht nur in alter kollegialer Verbundenheit, sondern in einer neuen Funktion - als Mitherausgeberin der EM -, wird sie uns im redaktionellen Alltag allen sehr fehlen.
Ines wurde am 10. Juni 1941 als Tochter von Otto und Ingeburg Köhler in Magdeburg geboren. In der Frühzeit der DDR war ihr Vater, leitender Ingenieur einer Firma für Förderanlagen, Pressionen ausgesetzt - einerseits einer ständigen Gefahr, des Boykotts oder der Sabotage bezichtigt zu werden, andererseits unausgesetzten Versuchen, ihn im Zuge der Enteignungskampagnen zu instrumentalisieren. Zwei Verhöre durch die sowjetischen Behörden in Berlin-Karlshorst, über deren Inhalt er selbst seiner Frau nie etwas erzählte, gaben 1954 den Ausschlag zur Flucht in den Westen. Inès war damals 13 Jahre alt. Bis die Familie eine Wohnung in Wilhelmshaven, dem neuen Arbeitsort des Vaters, gefunden hatte, waren Mutter und Tochter bei Freunden im Sauerland untergebracht, und Inès kam in eine Klosterschule - Kontrastprogramm zum sozialistischen Schulalltag! 1956 starb der Vater völlig überraschend; die Rente, die seiner Familie blieb, war winzig klein. Trotzdem ermöglichte Ingeburg Köhler ihrer Tochter eine schöne Jugend: Inès segelte auf der Nordsee, spielte Schach und Hockey, lernte Segelfliegen. Mit Jobs wie der Arbeit für die Vogelwarte Helgoland versuchte sie einen kleinen Beitrag zur Aufbesserung der Familienkasse zu leisten. An ein Studium wäre nicht zu denken gewesen, hätte es nicht das Honnefer Modell und dann das Bafög gegeben.
Ines ging 1961 zunächst an die Universität Marburg, wechselte aber bald nach Hamburg, wo sie im Hauptfach Slavistik (mit Schwerpunkt Bulgaristik) sowie Germanistik und Romanistik studierte. Sie gehörte zum ersten Jahrgang westlicher Studenten, denen eine beginnende politische Öffnung die Teilnahme an Ferienkursen in Bulgarien ermöglichte, und verbrachte seitdem während ihrer Studienjahre den Sommer regelmäßig auf dem Balkan - vor allem in Bulgarien, aber auch in Rumänien, Kroatien und Slovenien -,...