InterfacesKiel1969
Geogr. Helv., 69, 319320, 2014 www.geogr-helv.net/69/319/2014/ doi:10.5194/gh-69-319-2014 Author(s) 2014. CC Attribution 3.0 License.
Der Kieler Geographentag 1969: Wunden und Wunder
I. Helbrecht
Geographisches Institut, Humboldt-Universitt zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin, Germany
Correspondence to: I. Helbrecht ([email protected])
In den Annalen der Geographie kann man sich ein schneres, fachgeschichtliches Ereignis kaum denken. Eine groe Wende im Fach wird eingeleitet durch eine kluge Revolution von unten. Sie ndet als Revolte ihren revolutionren Akt und Eintrag in die Geschichtsbcher durch ein zeitlich und rumlich klar verortbares Ereignis: Auf dem Kieler Geographentag 1969 erobern die Studierenden die groe Bhne und fordern von den Lehrenden eine bessere, weil fachtheoretisch begrndete, methodisch geleitete, wissenschaftstheoretisch reexive, kritische und zugleich gesellschaftsrelevante Wissenschaft. Sie tun dies so reektiert und berzeugend, wissenschaftlich professionell, und aufs Beste fr die Wissenschaftsgeschichte dokumentiert in einem eigenen studentischen Journal der Heftreihe der Geograker , dass man sich nur verneigen kann vor dieser Generation. Sie hat meinen vollen Respekt. Und diese Revolte war hochntig!
Zugleich erinnere ich jedoch zwiespltig, was in den Jahrzehnten nach Kiel in der deutschsprachigen Geographie geschah. Denn in meiner Wahrnehmung ist der Kieler Geographentag nicht nur ein Lehrstck fr einen vermeintlich einfach zu datierenden Paradigmenwechsel im Fach. Er ist vielmehr mindestens zugleich ein Stck Anschauungsgeschichte zu den Widersinnigkeiten, den Ungleichzeitigkeiten und Ungerechtigkeiten, die Entwicklung und Wandel in einer Disziplin vorantreiben und gestalten. Denn nicht berall in den bundesrepublikanischen Instituten hielten Inhalt und Anspruch von Kiel auch nach Kiel Einzug. In den disziplinren Wirklichkeiten der Jahre darauf vollzog sich anderes. Es gab an den Rand Gedrngte, es gab Verwundete.
Ich schreibe dies aus der Position einer nachfolgenden Generation, als jemand, die ca. eineinhalb Jahrzehnte nach Kiel das Terrain der deutschsprachigen Geographie betrat. Als ich 1983 in Mnster mein Geographiestudium aufnahm, war Kiel 1969 so lange her, dass niemand im Lehrplan es fr ntig hielt, daran zu erinnern. Die klugen Texte der Geograker und Autor_innen drumherum (wie z.B. G. Hardt,U. Eisel, H.-D. Schultz und viele andere) spielten allesamt in meiner formalen Geographieausbildung keinerlei Rolle. Das Thema Kieler Geographentag wurde in meinem Geographie-
Studium von den Lehrenden totgeschwiegen. Dass es berhaupt so eine grundlegende Debatte gegeben hatte im Fach, war nicht Teil des Lehrplanes. Wie berhaupt in meiner Wahrnehmung der Kieler Geographentag gerade beim Establishment der Humangeographie in den Jahrzehnten danach kaum eine Rolle spielte.
Kiel, so schien es mir, war zu einem Geheimcode geworden, den wenige Eingeweihte aussprachen, der aber so wrde ich wagen zu behaupten an der Mehrzahl der Geographie-Studierenden noch in den 1980er Jahren nahezu vollstndig vorbei ging. Zwar hatte es die sogenannte Quantitative Revolution gegeben. Statistik und Methoden der Fragebogenerhebung wurden also zu einem Standard im Rahmen der Diplomausbildung. Jedoch wurde eine Herzkammer der studentischen Kieler Geographentagsargumentation die Einfhrung einer sozialwissenschaftlich fundierten, auch gesellschaftstheoretisch orientierten Humangeographie weder im deutschen Fach Geographie gepredigt noch praktiziert. Dieser Teil des Kieler Erbes wurde krftig negiert. Dagegen wurde der Siegeszug des Studiengangs der Diplomgeographie (als Neuerung zum bis in die 1960er Jahre vorherrschenden Lehramt Geographie) tatschlich durch die Forderung nach Gesellschaftsrelevanz und methodischer Fundierung der Ausbildung in Kiel befrdert.
Ich habe den Kieler Geographentag nicht erlebt. Und doch habe ich sechs Geograker-Hefte in meinem Besitz, im Original. Die Geograker sind Zeitschriftenhefte, die zwischen 1968 und 1972 erschienen sind und in denen ausgespro-chen kluge Autoren die Grundlagen des Faches in intellektuell hoch anregenden Aufstzen in Frage stellten und diskutierten. Erst Heft 3 erschien dezidiert als Sonderheft zum37. Deutschen Geographentag. Hier wurde eine grundstzliche Kritik der Geographie als Landschafts- und Lnderkunde formuliert. Weder gesellschaftlich relevant noch wissenschaftlichen Ansprchen gengend so vernichtend el das Urteil der Geograker ber den Zustand der deutschsprachigen Geographie aus.
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320 I. Helbrecht: Der Kieler Geographentag 1969: Wunden und Wunder
Ein Zeitgenosse des Kieler Geographentags, der Kollege Klaus D. (Name gendert), den ich erlebt habe, hat mir die Folgen dieses Wunders und dieser Wunde ber Jahre freiwillig und unfreiwillig gezeigt. 27 Jahre nach Kiel, im Jahr 1996, bekam ich von ihm sechs originale Geograker-Hefte geschenkt. Er bergab sie mir quasi als ein Vermchtnis, als er die Universitt verlie. Er arbeitete in Mnchen und hatte unter Wolfgang Hartke eine intensive Schulung in sozialwissenschaftlicher Geographe erlernt. Er bergab mir die Hefte als Paket mit einem Abschiedsschreiben aus dem Institut und dem Fach. Er verliess die Geographie und hinterlie mich mit den Worten: Anbei nden Sie einige Hefte: Ihnen zu eigen, wenn Sie wollen, mit dem Motto Wie alles begann .... Und er wnschte mir, dass ich meinen Schwung und meine Freude am Fach noch lange behalten knne(n) ... Ich wnsche Ihnen, da Sie sich beides zumindest so lange bewahren, bis Sie die institutionelle Unabhngigkeit erreicht haben.
So befreiend Kiel 1969 war, so unfrei war das Fach der deutschsprachigen Geographie doch noch weit bis in die 1990er Jahre hinein unfrei, was den Bezug zu den Sozialwissenschaften, der Wissenschaftstheorie und kritischer Gesellschaftsforschung betraf. Intellektuell el die ofzielle Post-Kiel-Geographie in Deutschland, was das Establishment der deutschsprachigen Geographie in den 1970er, 1980er und 1990er Jahren betraf, in vielem hinter das sozialwissenschaftliche Niveau der Geograker und Kieler Geographentagsdebatte zurck. Wir hatten eine zersplitterte Landkarte. In manchen Instituten war mehr mglich als in anderen. Und einige kluge Kpfe konnten erst in der schwierigen Nachwende-Situation der vor allem humangeographisch neu zu besetzenden ostdeutschen Institute einen Raum nden, um professorabel zu werden. Das westdeutsche Establishment hatte ihnen bis dato keine Aufnahme in den Professorenstatus gewhrt.
War der Kieler Geographentag von 1969 ein Bruch? Markiert er historisch einen Paradigmenwechsel? Ich glaube, er war eine erweckende Referenz aber nur fr die, die sie hren wollten und konnten. Deshalb fhrte er zu einer auf Jahre extrem ungleichzeitigen, fragmentierten Situation im Fach. Institutionelle Macht und intellektuelle Klugkeit waren in der deutschsprachigen Geographie auf Jahre und Jahrzehnte hinaus sehr ungleich verteilt. Alte Inhalte und Strukturen existierten in der Republik hartnckig weiter. Wer in solchen Jahren mit einer Art Kieler Bekenntnis am falschen Ort in der Republik auftrat, konnte schnell Ruf und Karriereperspektive verlieren.
Ich ehre und schtze die Geograker-Hefte meines ehemaligen Kollegen nach wie vor. Ich bewahre sie im Originalumschlag zusammen mit dem Schreiben, wie ich es vor langer Zeit erhielt. Und ich mchte daran erinnern, dass immer auch Glck dazu gehrt, in solch schwierigen Zeiten eines Faches zu berleben, dass nicht immer die bessere Idee sich durchsetzt. Ich habe den Kieler Geographentag nicht erlebt. Er ist wie ein Wunder und eine Wunde zugleich in unserem Fach. Ein Wunder, weil viel Gutes zusammen kommen muss, damit solch eine fachdiskursverndernde Performanz mglich wird. Und zugleich eine Wunde, weil manche Kolleginnen und Kolleginnen aus der Kieler Zeit ihre selbst formulierten Ansprche im Fach nicht durchsetzen und leben konnten. Ist es ein etymologischer Zufall, dass Wunde und Wunder die gleiche Sprachwurzel haben?
Geogr. Helv., 69, 319320, 2014 www.geogr-helv.net/69/319/2014/
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