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Höchst beachtenswerte Beiträge haben neuerdings gezeigt, dass in mancher Hinsicht eine enge Verwandtschaft zwischen Fichte und Levinas festzustellen ist.1 Wir betrachten es als bewiesen und setzen uns ein anderes Ziel vor. Es wird hier nicht darum gehen, einzelne Analogien aufzulisten, sondern den Kern der zwei untersuchten Lehren einander gegenüberzustellen, hervorzuheben, worin sie abweichen und sie auf ihre jeweilige Rechtfertigung und Haltbarkeit hin zu prüfen. Vorgreifend können wir sagen, dass wir es mit der Auseinandersetzung zwischen dem Meister der radikalen Immanenz, Fichte, und dem Meister der radikalen Transzendenz, Levinas, zu tun haben werden, eine Auseinandersetzung welche, wie sich zeigen wird, sich als eine neue Abwandlung der klassischen Auseinandersetzung zwischen Idealismus und Dogmatismus erweisen wird.
Unser Vortrag besteht aus drei Teilen. Im ersten Teil werden wir den Kern der Philosophie von Levinas, nämlich das, was er als die »ethische Erfahrung« bezeichnet, darstellen. Im zweiten Teil werden wir anhand die - ser »ethischen Erfahrung«, die uns als Leitfaden dient, die Wissenschaftslehre untersuchen, wobei wir uns auf die Jenaer Periode beschränken wer - den, wo die Intersubjektivitätslehre besonders in den Vordergrund tritt, was den Vergleich mit Levinas erleichtert. Im dritten Teil werden wir versuchen, aufgrund der Ergebnisse des zweiten Teils, und zwar von einem transzendentalen Standpunkt aus, einige Schwachstellen bei Levinas bloßzulegen.
Wir werden in diesem Beitrag rein systematisch Vorgehen. Levinas hat nämlich Fichtes Position kaum Aufmerksamkeit geschenkt; er hat keine eigenständige Interpretation von ihm geliefert, und es ist sogar zweifelhaft, ob er ihn im Original gelesen hat. Er begnügt sich leider damit, das in den Lehrbüchern bis zum Überdruss wiederholte Urteil zu übernehmen, welches u. a. auf Jacobi zurückzuführen ist und dem Ich der Wissenschaftslehre eine absolut produktive Kraft zuschreibt.2 So meint Levinas in Humanisme de l'autre homme, das Fichtesche Ich sei eine »das Nicht-Ich souverän konstituierende Tätigkeit« (activité constituant souverainement le nonMoï)? Dabei wird Fichtes Aufforderungslehre völlig übersehen, welche ihn jedoch besonders hätte interessieren können! Es findet sich auch nicht die leiseste Spur in seinem Werk, dass er die in der westlichen Philosophie durch die Wissenschaftslehre vollbrachte, gewaltige Beförderung der Intersubjektivitätslehre wahrgenommen hat. Es ist bedauernswert, dass der glühende Vertreter des Respekts vor dem Anderen sich so entschiedene Urteile erlaubt hat und vor der Fichteschen Philosophie nicht ein wenig mehr Respekt bezeigen konnte. Gerade bei Fichte...