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Abstract
Heimat
ist geradezu eine Chiffre der heutigen Zeit. […] Die Beschäftigung mit dem Topos kann durchaus als Pulsmesser für gesellschaftliche Fragen verstanden werden, um nachzuvollziehen, wie es um das Verständnis von Heimat, Identitäten in der Krise und die Räume, die ein Zusammenleben von Menschen möglich machen, steht.
Im Jahr 2006 – und damit zehn Jahre vor dem Erscheinen von Juli Zehs Unterleuten – merkte Thomas Geiger in einem Interview mit der Autorin an: „Es gab in Deutschland seit geraumer Zeit keinen Gesellschaftsroman mehr.“ 2 Sie stellte daraufhin den dringenden Bedarf eines solchen fest und äußerte den Wunsch, diesen selbst zu schreiben:
Das ist für mich tatsächlich eine Zielvorstellung. […] Das wäre unheimlich wichtig, weil Literatur da sehr viel leisten kann. […] Was passiert, wenn zwei verschiedene Weltanschauungen aufeinanderstoßen. Ich halte einfach so einen banal aufklärerischen Gedanken für wichtig, weil es meiner Meinung nach immer besser ist, wenn man kapiert, was passiert, als wenn man es nicht kapiert. […] Literatur hat da eine große Aufgabe.
Mit Unterleuten4 hat sie dann also genau das getan: Einen Gesellschaftsroman geschrieben, in dem unterschiedliche – es sind indes weit mehr als zwei – Weltsichten aufeinanderprallen; zumindest wird er nicht zuletzt vom Verlag wie von ihr selbst mit dem Etikett „Gesellschaftsroman“ versehen.5 Unter einem solchen versteht man laut Bernd Auerochs einen
Romantypus […], der beansprucht, die ganze Gesellschaft seiner Zeit modellhaft darzustellen. […] Im G. sind ↗Figurenkonstellationen, Räume und ↗Handlungen im Hinblick auf soziale Signifikanz angelegt. Die symbolischen Ordnungen der Romanwelten werden durch die Kombinationen von semantischen Oppositionen so organisiert, dass modellhafte Durchblicke auf die Totalität der ganzen Gesellschaft möglich werden – häufig in kritischer Perspektive. […]. Eine große Breite der Gesellschaftsdarstellung wird oft panoramatisch, d. h. durch ein umfangreiches Figurenspektrum und eine Vielzahl von Schauplätzen erreicht.
Den letzten Punkt ausgenommen – neben wenigen Episoden in Berlin und Ingolstadt ist Unterleuten der einzige Schauplatz –, treffen die genannten Punkte auf den Roman zu. Im Unterschied zum „klassischen Gesellschaftsroman“ haben wir in Unterleuten außerdem nicht den für diese Gattung „typischen allwissenden Erzähler“.7 Zentral ist für den Gesellschaftsroman auch nach Gero von Wilpert, dass dieser sich anstelle eines „ereignisreiche[n] Handlungsablauf[s] um 1-2 Hauptfiguren mit zeitl. Nacheinander“ durch eine „breite[] Zustandsschilderung bei zeitl. Nebeneinander vieler Handlungsstränge“ auszeichnet und so „das ganze Gesellschaftsleben e. Zeit und die daraus entstehenden Konflikte“ abbildet. Dabei kann er entweder den Gesellschaftsgeist einfangen, gesellschaftskritisch verfasst sein oder gerade durch sachliche Darstellung zur gesellschaftskritischen Reflexion anregen. 8 Laut Walter Delabar ist für das Genre ebenfalls „der Anspruch konstitutiv, dass der Text hinreichend angemessen gesellschaftliches Leben schildert, reflektiert, kommentiert oder inszeniert“. Angemessenheit kann sich dabei „auf den Entwurf von Akteuren, Szenerien, Kontexten, Interaktionen und Kommunikationen bezieh[en]“.
Um die letzten beiden Aspekte, die Interaktionen und Kommunikationen in Unterleuten, soll es in meiner Dissertation gehen, genauer gesagt: Um das Gelingen oder Scheitern der Kommunikation.10 Für Christoph Schröder ist die Sache klar: Juli Zeh zeigt anhand ihresFigurenensembles ein „Kommunikationsmodell[]“ auf, in dem Sprache nicht der Verständigung dient; vielmehr werden immer neue Missverständnisse erzeugt, „bis sich die fein bis in die DDR-Vergangenheit hineingesponnenen Erzählfäden zu einem derart unübersichtlichen Knäuel verwirrt haben, dass nur noch ein Mittel hilft, das Chaos aufzulösen: Gewalt.“11 Mit Habermas könnte man das, was in Unterleuten geschieht, so ausdrücken: Die Figuren „haben ihre Handlungssituation niemals vollständig unter Kontrolle. Sie beherrschen weder ihre Verständigungsmöglichkeiten und Konflikte, noch die Folgen und Nebenfolgen ihrer Handlungen; sie sind […] in Geschichten verstrickt.“ – Will man dies noch explizit auf Heimat beziehen, kann man es mit dem ersten Satz aus Anja Oesterhelts Habilitationsschrift aus dem Jahr 2019 tun: „Über Heimat zu schreiben, gleicht dem Versuch, ein Netz zu entwirren, in das man sich währenddessen immer weiter verstrickt.“ – Wie und warum es so weit kommt, werde ich in meiner Arbeit aufzeigen, wofür ich zunächst versuchen will, dieses Knäuel zu entwirren, die Kommunikation zwischen den Figuren in ihren unterschiedlichen Konstellationen unter die Lupe zu nehmen und die Frage zu klären, ob und warum diese tatsächlich (immer) scheitert – und zwar sowohl in Juli Zehs Roman, dem Hörbuch wie der Hörspiel-Adaption und Verfilmung.